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Ein Pluto der Vermessungstechnik *

Zeiss-Jena Theo 010

Nach 1955 war der Theo 010 der Präzisions-Theodolit im Produkt-Angebot der Jenaer Zeiss-Werke. Der Theo 010 wurde in der ersten Version bis ca. 1970 hergestellt, bis er vom Theo 010A abgelöst wurde. Er wurde in der DDR, in Osteuropa und auch im British Commonwealth in der Landesvermessung, im Bau und in der Staudammüberwachung eingesetzt. Es war ein Theo 010, der den Fernsehturm in Ostberlin auf 5 cm zum Senkrechten gebracht hat [1]. Hier ein Theo 010 der letzten Produktions-Serie, mit einer aufgesetzten Horrebow-Libelle für astronomische Zeit- und Positionsmessungen. Während die meisten Theo 010 dunkel grün angestrichen waren, erschien diese letzte Serie in grau.

Mitten in der Fernrohröffnung ist eine silberne Scheibe sichtbar; dies ist der zweite (sekondär-) Spiegel eines Spiegelteleskops. Das Spiegellinsen-Fernrohr des Theo 010 war wohl der letzte große Innovationssprung in der Geschichte der rein optischen Theodolite. Die späteren Zeiss-Modelle Theo 010A und 010B zeigen diese Fernrohrkonstruktion nicht mehr. Die Gründe liegen sowohl in den Herstellungskosten des Fernrohrs, die relativ hoch waren, als auch in der verschwundenen Nachfrage nach kleinen Präzisionsinstrumenten, die für terrestrische und astronomische Messungen gleichermaßen geeignet wären.

Ein neues Fernrohr für die Geodäsie

Mit Horrebow-Talcott-Libelle

Astronomische Messungen der Längen- und Breitengrade spielten in den fünfziger Jahren noch eine wichtige Rolle in der Landesvermessung, z. B. in den Kolonialgebieten in Afrika und Asien, wo die Vermesser oft zu Fuß und auf Pferd unterwegs waren. Die meisten Theodolite für astronomische Messungen waren relativ schwer und umständlich zu transportieren. Ein Askania Tpr wiegt fast sechsmal so viel, mit 60kg wiegt ein Wild T-4 10-mal so viel wie dieser Theo 010. Der beliebte Wild T3 ist nur zweimal so schwer, ist aber vertikal eingeschränkt [2]. Mit dem Theo 010 hatte man einen nur 5,3 kg schweren Theodolit, mit dem man terrestrische und astronomische Messungen mit hoher Genauigkeit (bis zur zweithöchsten Ordnung) durchführen konnte. Für astronomische Messungen konnte ein Beobachter die hier gezeigte Horrebow-Libelle auf Bruchteile einer Bogensekunde ablesen, ohne den Kopf vom Fernrohrokkular weit entfernen zu müssen (dank der Koinzidenz-Ablesung; siehe gespaltenes Bild der Libellenblase, oben links). In seiner Auflösung übertraf das Spiegellinsenfernrohr alle vergleichbaren Instrumente. Für Sternbeobachtungen gab es eine besondere Strichplatte mit 8 parallel gezogenen Linien, womit man die Zeit einer Sternkoinzidenz aus 8 nacheinander folgenden Strichdeckungen mitteln konnte. So konnten sorgfältige astronomische Positionsmessugen mit dem Theo 010 eine kaum zu übertreffende Genauigkeit erreichen. Aus der wissenschaftlichen Literatur der fünfziger und sechziger Jahre kann man schließen, dass das neue Fernrohr dem Theo 010 auch bei terrestrischen Messungen eine Zielgenauigkeit gab, die bedeutend höher war als die aller anderen vergleichbaren Instrumente. Die Fernrohrkonstruktion wurde von Horst Köhler berechnet, der später nach Oberkochen, zum »kapitalistischen« Zeiss, wechselte.

In [4] stellt Köhler dieses Fernrohr als eine Weiterentwicklung des aus der Astronomie bekannten Schmidt-Teleskops dar; es ist aber wenigstens äußerlich sehr ähnlich zu der Maksutov-Cassegrain-Konstruktion, die für kleine astronomische Teleskope und für Fotoobjektive verwendet wird. Für diese Anwendungen gilt das Maksutov heute immer noch als die beste aber auch teuerste Konstruktion.

Für einen Theodolit hat Köhlers Konstruktion zwei wichtige Vorteile: Erstens hat sie - wie alle Spiegelfernrohre - so gut wie keinen Farbfehler. Ein Theodolitfernrohr dient dazu, einen Strich im Fadenkreuz mit einem fernen Objekt zur Deckung zu bringen. Die unvermeidlichen Farbfehler der Linsenfernrohre haben aber zur Folge, dass das reale Abbild des Ziels nie in einer einzigen, wohldefinierten Ebene liegt, sondern (je nach Farbkomponente) teilweise vor, teilweise hinter dem Fadenkreuz. (Der Farbfehler ist die Ursache des violetten Farbsaums, den man auch in weniger guten Ferngläsern um helle Objekte sehen kann.) Beim Linsenfernrohr verhindert also die Streuung des Bilds einen sicheren Vergleich des Bildes mit dem Strich auf der Strichplatte (Parallaxfehler), aber im Spiegelfernrohr können beide genau in derselben Ebene liegen.

Im Transportkasten

Zweitens hat Köhlers Konstruktion eine erhöhte optische Auflösung (d.h., die Fähigkeit, zwei ferne, nebeneinander liegende Punkte zu unterscheiden). Die Spiegellinsenkonstruktion erfordert in der Mitte der Fernrohröffnung einen kleinen Spiegel, der das Licht vom Hauptspiegel zum Beobachter zurück schickt. Normalerweise versucht ein Fernrohrkonstrukteur, diesen Spiegel klein zu halten, damit er wenig Licht blockiert. Hier aber hat Köhler absichtlich einen großen Spiegel eingesetzt, der fast ein Drittel des einfallenden Lichts schluckt. Die Rechtfertigung: Vermessungsziele sind selten zu lichtschwach, aber sie können nie zu scharf sein. Bei Sternbeobachtungen muss man die Helligkeit mancher Sterne sogar mit Gittern abschwächen, um einen möglichst kleinen sichtbaren Punkt zu bekommen. Die ringförmige Öffnung des Fernrohrs, die um den großen Sekondärspiegel übrigbleibt, vermindert die Lichtstärke und den Kontrast, aber sie verstärkt die Lichtdiffraktion auf eine Weise, die die Auflösung des Bilds erhöht. Somit hat das Fernrohr mit 53 mm Öffnung die diffraktionsbegrenzte Auflösung eines konventionellen Fernrohrs mit 60 mm Öffnung.  

Obwohl Köhlers Fernrohr für astronomische Beobachtungen optimal war, fiel der Theo 010 bei terrestrischen Vermessungsaufgaben leider etwas weniger aus der Reihe. In Zeitschriften der Zeit wird berichtet, dass viele Benutzer den Theo 010 etwas gewöhnungsbedürftig fanden, und dass die exzellenten Laborwerte für Genauigkeit nur mit viel Übung zu erreichen waren. Als »Leichtgewicht höchster Genauigkeit« konnte er sich im Markt also nicht etablieren. Im Vergleich mit den besten Instrumenten seiner Zeit waren die vertikale Achsenführung und die Genauigkeit der Kreisablesung nur »auch gut«. Die Genauigkeit einer Kreisablesung ist prinzipiell durch die Größe des Teilkreises begrenzt.  So überrascht  es nicht, dass der Theo 010, mit einem Horizontalkreis von 82 mm Durchmesser, im alltäglichen Einsatz in der DDR (oft mit Studenten) einen mittleren Richtungsfehler von ca. 1,3 Sekunden zeigte, etwa 30 Prozent mehr als der Fehler eines (zweimal schwereren) T-3 mit einem Kreis von 135 mm. Jedoch mit sorgfältiger Benutzung durch geübte Vermesser mit guten Augen waren wesentlich bessere Werte erreichbar; im Labor kann ich, z. B., den Horizontalkreis mit einer Präzision von weniger als einer halben Bogensekunde ablesen.


Konkurrenz für die klassischen Instrumente?


Wild T4 im Einsatz (NOAA, B. A. Pryce)

Ist es möglich, dass der Theo 010 mit seinem einzigartigen Teleskop ursprünglich als Kandidat für astronomische Geodäsie höchster Ordnung gedacht war? In den späten 1950er Jahren gab es noch viele Gebiete auf der Welt, die mit dem Auto nicht erreichbar waren, und die klassischen geodätischen Instrumente wie der hier gezeigten Wild T-4 waren zu groß und zu schwer, um mit dem Pferd oder Maultier transportiert werden zu können. Außerdem wurde in diesen Jahren zunehmend klar, dass die massive Konstruktion solcher Instrumente die Genauigkeit nicht wirklich verbesserte [3]. Die ewähnten Ungenauigkeiten der Achsenführung und Teilkreisablesung des Theo 010 konnten die astronomischen Messungen ohnehin nicht beeinträchtigen, denn im geodätischen Einsatz war er in erster Linie für astronomische Messungen nach den Methoden von Horrebow-Talcott, Pewzow und Zinger gedacht. Diese sind mathematisch komplex, verlangen aber genaue Messungen nur bei der Durchgangszeit eines Sterns und der relativen Neigungsänderung des Fernrohrs zwischen zwei Messungen auf entgegengesetzten Seiten eines Meridians. Einige Studien haben gezeigt, dass diese Methoden Ergebnisse bringen, die gleichwertig oder sogar besser sind, als die klassischen Methoden mit Theodoliten wie dem schweren Wild T4 oder auch mit dem leichteren Kern DKM-3A [3].

Die relative Neigung zwischen zwei Sternbeobachtungen auf gleicher Himmelshöhe (Zenitdistanz) wird mit dem oben gezeigten Horrebow-Libelle gemessen. Die Ablesung der Horrebow-Libelle berücksichtigt dann die unvermeidbare Änderungen der Stehachsenneigung beim Drehen des Fernrohrs. Durch die eingschlossene Konstruktion ist die Libelle vor schnellen Temperaturschwankungen geschützt, nach [3] eine oft übersehene Fehlerquelle bei den klassischen Instrumenten. Die Horrebow-Libelle des Theo 010 wird fest an dem Tubus des Fernrohrs fixiert, so dass thermische Effekte auch die Verbindung zur Ziellinie des Fernrohrs kaum beeinflussen können. Eine Präzision von 0,2" ist, nach meinen Messungen, erreichbar, und auch die »äußere Genauigkei« ist wesentlich besser als die der anderen Instrumente.

G. Bahnert [5] erwähnt, dass ein bewegliches Fadenokular, wie es in den klassischen Instrumenten der Geodäsie erster Ordnung zur Messung des Zeitpunkts eines Sterndurchgangs verwendet wurde, zwar entwickelt, aber nie in Produktion genommen wurde.
Mindenstens seit 1938 war aber bekannt, dass man eine präzise Durchgangszeit mit viel einfacheren Mitteln messen konnte. Dem Firmenprospekt zufolge hat Zeiss-Jena ein astronomisches Fadenkreuz mit 7 oder 8 Linien zur Verfügung gestellt (obwohl ich nach 20 Jahren noch nie eines zum Verkauf angeboten gesehen habe). Es ermöglichte dem Beobachter, die Messung der Durchgangszeit auf jeder der Linien zu wiederholen, was einen viel genaueren Durchschnittswert ergab, als dies mit einem einzigen Durchgang über das Standardfadenkreuz möglich war. In den 1930er Jahren hatte der britischer Vermessungsingenieur J. de Graaff Hunter unter Verwendung eines ähnlichen Fadenkreuzes (jedoch mit 32 Linien) Durchgangs-Genauigkeiten in der Größenordnung von 0,04 Sek. mit einem Theodolit ähnlicher Größe wie dem Theo 010 ermittelt. Mit einer einfacheren, aber ähnlichen Technik berichteten Kabaláč und Synek [6], dass sie Durchgänge mit einem Theo 010 auf 0,04 Sek.  genau bestimmen konnten . Dieses entspricht einer Präzision in der geographischen Länge von weniger als ca. ±20m (0,04 Sek => 0,6"; 31m * 0,6 -> 19m). Solche Ergebnisse sind mit viel größeren geodätischen Instrumenten, wie dem oben abgebildeten T-4, kaum zu übertreffen [7]. Mindestens drei andere Studien haben diese Werte bestätigt.

Ich habe herausgefunden, dass man durch Vertauschen der beiden Objektivlinsen im Zenitokular, das mit dem Theo 010 für Höhenbeobachtungen geliefert wurde, eine Teleskopvergrößerung von etwa 52x mit sehr brauchbarer Auflösung, insbesondere von Sternen, erhält. Die Brechungsringe sind zwar ausgeprägter als bei einem echten 60-mm-Objektiv, wie dem des T-4, aber bei schwachen Sternen (Magnitude 4 oder 5) sind sie kaum sichtbar, und bei helleren Sternen will man die Helligkeit ohnehin mit lichtabsorbierenden Netzen vor dem Teleskopobjektiv reduzieren. Nach einer kurzen Notiz
(Acta Astronomica (17:3, 1967, S. 354) wurden die astronomischen Koordinaten eines Observatoriums in Krakau, Polen, mittels Theo 010 mit einer Genauigkeit von 0,3" in der geografischen Länge und Breite ermittelt, d. h. ±10 m - ein Ergebnis, das man glauben kann oder nicht. Möglicherweise hat der VEB Zeiss für diese Art von Beobachtung spezielle Zusatzgeräte geliefert, die nicht allgemein erhältlich waren.

Meinen eigenen Messversuchen zufolge hatte der Theo 010 jedenfalls das Potential, einen Platz in der geodätischen Astronomie einzunehmen, der ihm nie gegönnt wurde.

Der Abgang

Der Markt für ein kleines, leichtes Instrument für geodätische Astronomie entwickelte sich anders als gehofft. Der Nachfolger des Theo 010, der Theo 010A, trägt zwar noch den Namen, ist aber ein völlig neues Instrument. Er ist fast 1 kg leichter, und die Zusatzteile wie Horrebow-Libelle, Reiterlibelle und astronomischer Strichplatte, die für die astronomischen Anwendungen des Theo 010 gedacht waren, gehören nicht mehr zu seiner Ausstattung. Als astronomisches Instrument ist er wohl nicht mehr gedacht. Mit dem Aufbau des Global Positioning Systems (GPS) in den 1970er Jahren verlor die geodätische Astronomie ohnehin an Bedeutung. Der letzte Wild T4 wurde 1981 produziert.


* Mein besonderer Dank gilt
Guido Thuernagel, der eine frühere Fassung dieses Artikels verbessert und veröffentlicht hat.

 
[1] Henneke und Werner. Ingenieur-Geodäsie, VEB Bauwesen, 1986.

[2] Deumlich, »Instrumentenkunde der Vermessungstechnik«, VEB Bauwesen, 1980.

[3] Wolfgang Zink. Geodätische-astronomische Feldbeobachtung hoher Genauigkeit: Untersuchungen an den Verfahren von Zinger und Pewzow. München: Bayrische Akad. d. Wissenschaften/C.H.Beck, 1977.

[4] Horst Köhler. Die Fernrohre und Entfernungsmesser. Berlin: Springer, 1959.

[5] G. Bahnert. Untersuchungen der Leistung des Spiegellinsentheodolits Theo 010 des VEB Carl Zeiss JENA, Vermessungstechnik 4:4, 1956)

[6] Kabaláč und Synek. Bestimmung der Durchgangszeiten von Sternen durch die Methode der Unterbrechung der Gesichtsfeldbeleutung. Studia geographica et geodetica, 1964, S. 120-126

[7] Clair Ewing & Michael Mitchel. Introduction to Geodesy, NY: Amer. Elsevier, 1970.

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